6 - Los Toritos     April 2009

Am Rande des Dörfchens Agua de Oro (30km nördlich von Córdoba) liegt Los Toritos. Vom Tor führt eine holprige Naturstrasse durch dichtes, grünes Gebüsch einen knappen Kilometer zur weissgetünchten Ranch. Von der Terrasse blicken wir auf die grosse Weide und die bewaldeten Hügel, kein anderes Haus weit und breit, uns umgibt absolute Ruhe. Absolut? Da kreischen Papageien, zirpen Grillen, quacken Frösche, klopft ein Specht, surrt lautlos ein Kolibri, je nach Tageszeit eine andere Geräuschkulisse. Hinzu kommen die Laute der hauseigenen Viecher: ein Hahn mit seinen Hühnern – ein Schäfchen, das noch liebevoll geschöppelt wird – Ziegen, eine weisse Schweizerin und eine braune Nubierin – ca. 15 Kühe und Rinder, die jedes kleinste Loch im Zaun finden und auch zu nutzen wissen – und natürlich "unsere" beiden Wallache Aladin und Chanchero und die schwangere Nena mit ihrer noch jungen Tochter Carita.

Hier leben wir nun einen Monat zusammen mit Brigitte und Ricardo, den Eigentümern von Los Toritos. Oft zieht ein köstlicher Duft durch das Haus, dann backt Brigitte frisches Brot oder bereitet ein leckeres Nachtessen vor. Unsere täglichen Anliegen sind bei ihr gut aufgehoben und sie umsorgt uns liebevoll. Oft erklingen auch schöne Töne im Haus, dann spielt Ricardo, ein begnadeter Musiker, auf seiner Gitarre. Ebenso gut kann er mit Pferden umgehen und bringt uns auf spielerische und spannende Weise das Pferde-ABC bei. So lernen wir das Einfangen und Satteln der Pferde, galoppieren freihändig, öffnen und schliessen Tore oder heben im Stand einen Hut vom Boden auf. Eine Herausforderung ist die Sortija, ein Spiel bei dem im Galopp, ein auf ca. 3m Höhe hängender Fingerring mit einem Stecken aufgespiesst werden muss.

Wir lernen aber auch anderes. Jeden Tag darf Sandra und muss Jost hinter die Bücher und wir werden von Brigitte und Ricardo mehr oder weniger komplex in die spanische Konversation eingeweiht.

Am allermeisten freuen wir uns auf die Ausritte in karge Hügellandschaften und romantische Täler in den Sierras Chicas. Zu viert reiten wir in teilweise unwegsamen Gelände, steil hinauf und wieder hinab, bezwingen Dornengebüsch, sehen danach entsprechend aufgekratzt aus und durchqueren klare Bäche und Flüsse mit anfangs nassen und gegen Ende trockenen Füssen. Auf solchen Ausritten lernen wir auch die Gastfreundschaft der Argentinier kennen und werden von vielen Freunden des Hauses zum Mate eingeladen. So machen wir auch Bekanntschaft mit Betty und Gordo. Mit ihm, Mona und Ricardo reiten wir zu Gordos Grundstück in den Bergen und treiben als Hilfs-Gauchos den ganzen Morgen die über hundert Rinder zusammen, zwecks Volkszählung und Überprüfung des Gesundheitszustandes. Zum Zeremoniell gehört anschliessend das Asado und wir staunen nicht schlecht, als wir den riesigen Mocken Fleisch auf dem heissen Grill sehen. Grosszügig werden die leeren Teller (Holzbrettli) immer wieder gefüllt, "Coma, coma!", es ist keine Ende in Sicht. Dazu wird Rotwein mit Coca Cola oder Wasser getrunken, als erste Hilfe für die Verdauung folgt Ginebra und Whisky, natürlich auch mit Coca Cola.

Apropos Gordo und Mona: Hier haben praktisch alle Männer einen Spitznamen nach ihrem Aussehen oder einer speziellen Eigenschaft. Deshalb heisst ein eher Vollschlanker "Gordo", ein Dünner "Flaco" und einer der besonders gut auf Pferden rumturnen kann "Mona" (Äffin).

Josts grosser Wunsch einmal beim Schlachten mitzuhelfen geht in Erfüllung. Auf Nachbars Grundstück werden zwei Rinder mit je einem gezielten Schuss erlegt, ausgeblutet und mittels Seilwinde auf den Jeep gehievt. Vor Gordos Haus wird den Tieren feinsäuberlich das Fell über die Ohren gezogen. Mit Messer und Säge werden sie professionell ausgenommen und in zwei wunderbare Rinderhälften geteilt. Wir (auch Sandra, die zu Beginn eher zwischen Skepsis und Ohnmacht schwankte) sind total fasziniert von diesem Vorgang. Die Gauchos erbleichen als Jost sein Sackmesser zieht und von der noch warmen Leber ein Stück abschneidet und roh isst. Zum Zeremoniell gehört anschliessend das Asado mit den Innereien. In einem Eimer mit kaltem Wasser werden die Därme gewaschen, in Stücke geschnitten, zusammen mit Nieren und Schilddrüsen kurz in ein Essigbad gelegt und landen so auf dem Grill. Wir staunen selber, wie gut uns dieses spezielle Essen schmeckt!

Dass Argentinien das Land der Superlative ist, wussten wir noch nicht. Aber unsere Gastgeber erzählen uns schmunzelnd von Vielen, z.B. von den grössten Gummibäumen auf Erden in Buenos Aires. Zwei dieser Weltwunder zeigen sie uns persönlich und so fahren wir ehrfürchtig durch die längste Allee oder fühlen uns wie in einer Hollywood Kulisse als wir vor dem schmalsten Haus der Welt stehen.

Das viele Essen und Trinken setzt uns körperlich zu, beziehungsweise an. So entschliessen wir uns, der sportlichen Seite mehr Gewicht zu geben. Wir beginnen als Zuschauer bei einem Pato-Spiel. Ursprünglich wurde eine Ente auf dem Spielfeld ausgesetzt und zwei Mannschaften mit je vier Reitern versuchten sie im gestreckten Galopp am Hals zu packen und in das gegnerische "Tor" (eine Art Riesenkorb wie beim Basketball) zu schmeissen. Heutzutage wird die Ente durch einen weniger spektakulären, aber politisch korrekten und tierfreundlichen Ball ersetzt, aber das Spiel bleibt spannend und fordert Reiter und Pferd.

Nachdem wir diesen sportlichen Akt glücklich gemeistert haben, wagen wir uns nun an einen Extremsport. Mit einem kühlen Bier in der Hand bewundern wir die waghalsigen Ritte an einer Jineteada (ein Rodeo). Harte Kerle versuchen 12 Sekunden auf einem wilden Pferd "sitzen" zu bleiben, das ausschlägt, sich aufbäumt, tobt und hüpft. Wer es schafft gewinnt Ruhm und Ehre, andere humpeln vom Platz oder werden gar mit der Bahre Richtung Krankenwagen getragen. Das Ganze wird umrahmt von inbrünstigem Gesang, begleitet von einer verstimmten aber lauten Gitarre, dazu ein nimmermüder Sprecher der das johlende Publikum aufpuscht, vor allem wenn ein Unglücklicher regungslos liegen bleibt.

Unser Durst ist noch nicht gestillt, wir werden noch sportlicher und auch schneller. An einer Cuadrera, bestehend aus mehreren Pferderennen zwischen 150 und 250 Metern Länge, je nach Pferdestärke, wollen wir es noch einmal wissen. Die Tiere werden präsentiert, sofort beginnt ein eifriges Wetten, alle von jung bis alt machen mit. Dann werden die Pferde gesattelt, meist nur mit einem Stück Schaumstoff und ohne Steigbügel. Die Jockeys aller Altersklassen, wärmen ihre Pferde auf. Es folgt ein nervöses und undurchschaubares Prozedere bis alle richtig in der Startbox stehen und – Zack – öffnen sich die Boxentore und die Pferde mit Jockeys schiessen davon. Donnernd galoppieren sie an uns vorbei, hinterlassen eine dicke Staubwolke, die Zuschauer stürmen auf die Rennbahn und rennen dem Sieger schreiend hinterher. Als an einem der Rennen ein Pferd von den anderen abgedrängt wird, wittern die Verlierer Betrug, die Emotionen schlagen hoch, ein Handgemenge entsteht, die Polizei ruft Verstärkung und der Schiedsrichter kommt mit einem richtigen blauen Auge davon.

Ansonsten sind alle Sportanlässe ein Volksfest, ganze Familien kommen mit Auto oder hoch zu Ross, packen Stühle und Tische aus und zum Zeremoniell gehört natürlich auch hier ein Asado auf einer der unzähligen Feuerstellen.

Wir verbrachten vier wunderschöne Wochen auf Los Toritos und genossen den sehr persönlichen Einblick in eine für uns bislang unbekannte Lebensart. Herzlichen Dank an Brigitte und Ricardo!

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